AZ Medien 2022

Sturz vom Hochseil? Einer exklusiven Schweizer Jazz-Reihe droht das Aus

Die Edition Klactovee hat die Tradition der «Blowing Sessions» wiederbelebt. Einmalige Sessions in neuen, unerhörten Band-Zusammenstellungen. Jetzt ist die finanzielle Unterstützung gestrichen worden

«Blowing Sessions» waren vor allem in den 50er-Jahren spontane, einmalige Studiosessions von Jazzmusikern, die in dieser Zusammensetzung noch nie zuvor zusammen gespielt hatten. Sie trafen sich in einem Raum, keine Kopfhörer, keine Noten, minimale Probe und spielten meist Standards aus dem «Great American Songbook». Zusammengestellt wurden die Bands in der Regel von Plattenlabels und den Plattenproduzenten.

Legendäre «Blowing Sessions» sind zum Beispiel «Tenor Conclave» (1956) mit den Tenorsaxofonisten Al Cohn, Zoot Sims, Hank Mobley und John Coltrane, «Further Definitions» (1962) von Benny Carter mit den Saxofonkollegen Charlie Rouse, Coleman Hawkins und Phil Woods sowie «Tenor Madness» (1956), das einzige Gipfeltreffen der Tenor-Giganten John Coltrane und Sonny Rollins.

Vor drei Jahren hat der Berner Jazzpublizist Tom Gsteiger die Tradition dieser «Blowing Sessions» wieder aufgenommen und reaktiviert. Seither sind in seiner Edition Klactovee auf dem Berner Label ANUK neun Alben entstanden, zum Beispiel mit Kompositionen zu Ehren von Lennie Tristano, Paul Motian oder Thelonious Monk.

Ausgewählt wurden einige der besten Schweizer Jazzmusiker wie die Saxofonisten Christoph Grab und Rafael Schilt, die Pianistin Vera Kappeler, der Trompeter Matthias Spillmann, der Gitarrist Dave Gisler, aber auch ausgewählte ausländische Musiker wie die Pianisten Bill Carrothers und Harvey Diamond.

Als Produzent stellt Gsteiger die Bands zusammen und liefert die Ideen für die Alben. Ihm geht es in der Serie aber auch um die Songschätze aus dem «Great American Songbook». Gemäss Gsteiger improvisieren heute viele Schweizer Musiker privat über Jazzstandards. Sie nehmen sie aber nicht auf, weil nur Eigenkompositionen Aussicht auf Kulturunterstützung haben. «Dabei geht es im Jazz in erster Linie um die Kunst Improvisation», sagt Gsteiger.

Die Serie füllt diese Lücke. Sie ist ein Statement für das Risiko, das Unperfekte, den Moment, das Einzigartige und für den improvisatorischen Hochseilakt. «Der zeitliche Druck führt oft zu besseren Resultaten, als wenn man sich zwei, drei Tage vorbereitet», ist Gsteiger überzeugt. Zum Teil haben sich die Musiker erst im Studio getroffen.

Unbekannte Kompositionen von Kurt Weill ausgegraben

Das aktuelle, neunte Album «Kurt» ist dem deutschen Komponisten Kurt Weill (1900-1950) gewidmet, der in seinem Geburtsland mit Bertolt Brecht zusammen gearbeitet hat (u.a. Dreigroschenoper) und dann in die USA ins Exil ging. Der Saxofonist Donat Fisch hat neben bekannteren Stücken eine Reihe von Weill-Stücken ausgegraben, die bisher nicht aufgenommen wurden und hat sie mit den Musikern Philipp Schaufelberger (Gitarre), Bänz Oester (Bass) und dem spanischen Schlagzeuger Jorge Rossy eingespielt. Entstanden ist eine entspannte, exklusive Session, ein tiefsinniger, souveräner Diskurs auf dem Hochseil von vier Meistern, die sonst nur in anderem Kontext zu erleben sind.

Die Nummer 10 von Klactovee mit Peter Frei, Rafael Schilt und Paul Amereller ist bereits in der Pipeline. Sie soll Ende Jahr oder Anfang 2023 erscheinen. «Dann ist vorerst Schluss», sagt Gsteiger. Der ebenso einzigartigen wie wertvollen Reihe droht das Aus, weil die Stiftung die Unterstützung gestrichen hat. Gsteiger will aber noch nicht aufgeben und sucht neue Geldgeber. Es wäre jammerschade für diese einzigartige Reihe.

Stefan Künzli

Dez 2022

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