Der Landbote 2011

Meisterschaft ohne Mätzchen
Saxofon-Souplesse à discrétion: Im Theater am Gleis fand am Mittwochabend eine beglückende Begegnung zwischen Donat Fisch und Andy Scherrer statt. Zu hören waren keineswegs Fussnoten zur Jazzgeschichte.

Was verbindet Joe Lovano – der am 14. März mit seiner famosen Band Us Five im Zürcher Jazzclub Moods die neue CD «Bird Songs» (eine originelle und lebendige Hommage an Charlie Parker) präsentiert – mit Donat Fisch und Andy Scherrer? In allen drei Fällen haben wir es mit magistralen Saxo-fonisten zu tun, die zentrale Aspekte der Jazztradition auf unnachahmlich eigenständige und ungekünstelte Wei-se zu transzendieren verstehen.
Hört man Fisch und Scherrer zu, mag man unter anderem an John Coltrane, Wayne Shorter, Joe Henderson, Ornette Coleman, Sam Rivers oder Charles Lloyd denken, doch schlussendlich hört man alles andere als epigonenhaften Abklatsch. Mit anderen Worten: Fisch und Scherrer ergänzen die Saxofon-Enzyklopädie des Jazz nicht mit einer Anhäufung von Fussnoten, sondern mit eigenen Kapiteln von kolossalem Zuschnitt.
Dass der Auftritt von Fisch und Scherrer im Theater am Gleis in Winterthur zu einem absoluten Hochgenuss wurde, lag allerdings nicht nur an der klanglichen Finesse und an dem auf die Essenz abzielenden Einfallsreichtum dieser Ausnahmesaxofonisten, sondern auch an der Empathie und Reaktionsschnelligkeit des bravourösen Bassisten Bänz Oester und des schlagfertigen Schlagzeugers Norbert Pfammatter. Da war praktisch in jeder Sekunde ein blindes Vertrauen zwischen allen Beteiligten spürbar. Hier war ein beeindruckendes musikalisches Beziehungsgeflecht zu erleben, dessen Ursprünge ziemlich weit in die Vergangenheit zurückreichen.

Eingängig und widerborstig
Vor langer, langer Zeit wurde der 1956 geborene Fisch vom zehn Jahre älteren Scherrer in die Geheimnisse des Jazz eingeweiht. 1989 gründete Fisch ein Trio mit dem Schlagzeuger Norbert Pfammatter und dem Bassisten Thomas Dürst, der nach elf Jahren von Bänz Oester ersetzt wurde. In der Triobesetzung sind bis dato zwei Alben («Toys», «Live Im Bird’s Eye») erschienen, dazu kommen drei Alben, auf denen das Trio zum Quartett erweitert wird: «Intervals and Melodies» (mit dem Bassklarinettisten Hans Koch), «Mr. Goodman» (mit dem Trompeter Peter Schärli) und zu-letzt «Lappland» mit Scherrer.
Auf all diesen Alben, die zusammengenommen ein zwar schmales, aber dafür enorm substanzielles und konsequentes «work in progress» bil-den (das durch zwei faszinierend asketische Duo-Alben mit dem Schlagzeuger Christian Wolfarth vervollständigt wird), stammt das Repertoire ausschliesslich aus der Feder von Fisch, dem man ein Faible für eigenwillige und gleichzeitig hochgradig eingängie Kompositionen attestieren darf, die mutig, aber nicht mutwillig aus herkömmlichen Jazzschemata ausbrechen. Die Unbeirrbarkeit, mit der Fisch seiner inneren Stimme folgt, erinnert an Ornette Coleman. Mit dem Outlaw aus Texas hat der helvetische Eigenbrötler noch etwas Weiteres gemeinsam, nämlich die Fähigkeit, volksliedhafte Einfachheit und widerborstige Wildheit unter einen Hut zu bringen.
Fischs Stücke, unter denen man wunderbare Balladen ebenso findet wie frei pulsierende Hymnen, Up-Tempo-Freebop-Nummern oder Stücke mit vertrackten Rhythmen, sind in ihrer Mischung aus klar definierten Stimmungen und Offenheit ideale Ausgangspunkte für improvisatorische Exkurse, die ins Offene führen, ohne sich in Beliebigkeit zu verlieren. Durch diese klugen, aber nicht klug-scheisserischen Vorgaben einerseits und durch die uneitle Haltung aller Beteiligten (insbesondere der Saxofonisten) andererseits war dafür gesorgt, dass das Konzert nicht in eine Höher-Schneller-Lauter-Abnützungsschlacht in Sax-Battle-Manier ausartete. Fisch und Scherrer spielten sich nicht in Grund und Boden, sondern pflegten ein gepflegtes Wechselspiel – oft überlappten sich ihre Improvisationen auch, wodurch sich eine ungemein spannungsvolle, dichte «Free-Polyfonie» ergab.

Jazz in Lappland?
Zum Schluss sei noch das Rätsel gelüftet, warum Fischs neueste CD den für Jazzverhältnissse doch eher untypischen Titel «Lappland» trägt. Fisch ist ein Naturbursche, der sich auf langen, einsamen Trekkingtouren im hohen Norden wohler fühlt als in den Strassenschluchten von New York. Seine Stücke haben wohl nicht zuletzt desshalb eine ganz eigene Anmutung, weil sie doppelten Ursprungs sind: Sie wurzeln zum einen in musikanalytischer Kärrnerarbeit (zu der selbstverständlich auch die Auseinandersetzung mit aktuellen Jazzströmungen gehört), zum anderen in asketischen Naturerlebnissen, denen ein metaphysischer Zauber innewohnt.

tom gsteiger

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