Neue Zürcher Zeitung 2013
Das Jazzfestival Willisau 2013 - Streiten oder Schnarchen?
In Willisau zeigt sich: Jazz ist eine umstrittene Musiktradition. Die 39. Ausgabe des Festivals bot ein Kontrastprogramm mit Folk von Joe Henry, Ambient-Jazz von Marcus Gilmore und dem Swing von Squakk oder dem Donat Fisch Quartet.
Was hat Joe Henry in Willisau verloren? Was sucht ein amerikanischer Singer/Songwriter an einem Festival, das die neusten Tendenzen des Jazz präsentieren soll? Als Produzent hat Henry zwar schon einmal mit dem Jazz-Pionier Ornette Coleman zusammengearbeitet. Am Freitagabend im Konzert jedoch, begleitet von einem Gitarristen und einem Drummer, erwies er sich als engagierter Interpret seiner metaphorisch originellen, klanglich luftig flockenden Lieder. Da mochte zwar Raum sein für gestalterische Freiheiten. Aber mit Improvisation hatte diese Musik wenig zu tun; zumal der Sänger regelmässig in heiseren Koloraturen landete, die Kehle und Pathos strapazierten.
Grenzen und Gräben
Und doch hätte man Henry schon deshalb nicht missen wollen, weil er sofort jene Fragen über Programme und die musikalische Ausrichtung aufwarf, die in Willisau immer wieder im Raum stehen. Musik überwindet ja manchmal Grenzen, aber ebenso häufig schafft sie auch Gräben. Und wenn dann über Ästhetik gestritten wird, kann das die eine Tradition beleben. Jazz war wiederholt ein Schlachtfeld von Schulen und Sekten, von Puristen und Utopisten. Und so gesehen ist es kein schlechtes Zeichen, wenn in Willisau die Meinungen über Aktualität und Relevanz von Stilen und Bands auch dieses Jahr auseinandergingen. Die Grabenkämpfe haben an Heftigkeit allerdings verloren. Wäre ein Joe Henry vor zwanzig Jahren nach Willisau gekommen, die Wächter der Avantgarde hätten ihn mit Tomaten beworfen. Die gesellschaftliche und kulturelle Vielfalt haben Toleranz und Flexibilität im Allgemeinen wohl gefördert. Aber gerne machen wir es uns heute auch in Gleichgültigkeit gemütlich. Und während nun viele angereiste Folk-Fans Joe Henrys Schweizer Konzertdebüt in Willisau feierten, legten die Festival-Habitués ein freundliches Desinteresse an den Tag: Die einen blieben für ein, zwei Songs; die andern schnarchten friedlich weg. Lange regierten in Willisau die lauten Revolutionäre des Free Jazz. Längst jedoch hat sich auch diese Avantgarde in Klischees und Klassik verdichtet und beruhigt. Das bewies am Samstag etwa der Auftritt des Zürcher Trios Karl ein Karl, das im Gründungsjahr 1982 schockieren mochte mit der Reinkultur freier Improvisation. Unterdessen aber hat sich das reife, dynamisch geschliffene Zusammenspiel von Alfred Zimmerlin (Cello), Michel Seigner (Gitarre) und Peter K. Frey zu einem eigenen Genre bewährter Verfahren und Sounds verfestigt. Und der amerikanische Saxofonist Anthony Braxton (der für den erkrankten Ceci Taylor einsprang) improvisierte am Sonntag mit dem Trompeter Taylor Ho Bynum und dem Schlagzeuger Gerry Hemingway eine hübsche, bald zwitschernde, bald röchelnde Kammermusik. Allerdings erweckte er damit den Eindruck, Jazz sei auf DRS 2 erfunden worden. Spätestens seit Arno Troxler 2010 die künstlerische Leitung übernommen hat, scheint das Festival die Schwerpunkte ebenso häufig in den stilistischen Randgebieten wie im eigentlichen Jazz zu setzen. Diese Erweiterung des klanglichen Horizonts erschwert die Orientierung im Kerngebiet Jazz erst recht: Was ist hier noch relevant oder aktuell? Wie soll die Tradition in Willisau repräsentiert werden? Im erfreulich zahlreichen Publikum jedenfalls war man sich uneinig …
Lehrer und Schüler
Und manchmal schien es schon ziemlich skandalös, wenn andere Leute andere Meinungen hatten – wo wir doch die einzig wahre vertreten (jawohl, liebe Leser, Sie haben Glück gehabt!). So gab es am Freitag erwiesenermassen kompetente Zeitgenossen, denen das Konzert des Donat Fisch Quartet missfiel. Sie hatten nicht gemerkt, wie souverän und formsicher hier zwei Saxofonisten zusammenspielten, die einst Lehrer (Andy Scherrer) und Schüler (Fisch) waren. Die besagten Ignoranten hörten auch nicht, wie die beiden, beflügelt und angestachelt von Bänz Oester am Bass und dem Schlagzeuger Norbert Pfammatter, eine hymnische Kraft, sirenenartige Intensität in ihr Spiel brachten. Man wurde an hornende Dampfer erinnert, die unterschiedliche Gewässer durchkreuzen mochten, deren Wege zuweilen aber in majestätischer Feierlichkeit zusammenliefen. Am Anfang standen oft einfache, an Ornette Coleman gemahnende Themen, die mantraartig wiederholt wurden, bevor der eine oder der andere Solist die Abzweigung in überraschende Schlenker und spannende Verfremdung nahm. Scherrers Spiel führte durch Ecken und Kanten in eine Emphase, aus der der Schmerz und die Arbeit alter Errungenschaften herauszuhören waren. Auch Oester evozierte in seinen weiten, aber stringenten Soli Nostalgie und Melancholie. Bei Donat Fisch aber fand die Tradition stets ihren Trost: Mit seiner Gelassenheit und Serenität brachte er nicht Ruhe, aber Frieden in seine Band.
Jazz mit Punk und Ambient
Wenn in Willisau Gitarristen aufspielen, dann werden fast immer Rock und Punk zelebriert. Das bestätigte dieses Jahr das Konzert von Nels Cline. Willkommen in der Uneigentlichkeit: Der Wilco-Gitarrist verlor sich im Duo mit dem clownesk gestikulierenden Drummer Greg Saunier in fasrigen Spielereien. Da wirkte danach der Auftritt des Saxofonisten und Bassklarinettisten Lucien Dubuis zwingender, witziger. Mit seinem Trio bündelt Dubuis die Schubkraft des Punk zumeist in kurzen und bündigen Stücken; der Raum für die Improvisation ist beschränkt – umso lakonischer und prägnanter waren dafür zumeist die Soli. Eine an sich spannende Auseinandersetzung mit Pop und Rock bot auch der Auftritt des Marcus Gilmore Special Project featuring Graham Haynes. Der brillante amerikanische Drummer Gilmore versucht klangmalerischen Jazzrock à la «In A Silent Way» von Miles Davis und Weather Report in die Gegenwart von House und Ambient zu übersetzen. Insgesamt war die pausenlose und gnadenlose 90-minütige Darbietung eine Zumutung für das sitzende Publikum: Sehr langsam bauten sich elektrisierende Ambient-Tableaus auf und wieder ab; die trackartigen Strukturen sorgten kaum für Dramatik. Viele verliessen das Konzert deshalb frühzeitig. Nach dem düsteren Ambient-Jazz vom Vorabend war man froh, als am Sonntagnachmittag vier deutsche Musikanten die Bühne betraten und für Stimmung sorgten. Das Quartett Squakk verbreitete nämlich sofort eine tierische Lust und Lustigkeit. Ausgekocht wirkten die Musiker: der Posaunist Christof Thewes, der Klarinettist Rudi Mahall, Jan Roder am Bass und Michael Griener am Schlagzeug. Die Musik hingegen klang so roh und dreckig wie frisches Biogemüse.
Ueli Bernays