Willisauer Bote 2013

Kreative Vielfalt mit Irritationen
Jazz Festival Willisau | Der Rückblick auf die 39. Auflage

Das Jazz Festival Willisau konnte den Erfolg vom Vorjahr bestätigen. Besuchermässig und musikalisch. Es wurde wiederum eine breite Palette an zeitgenössischen Spielweisen geboten. Mit Joe Henry sorgte auch ein Singer/Songwriter für Irritation. Sehr gut in Erinnerung werden die Schweizer Bands bleiben.

Braxton-Finale.
Es war ein starkes Stück «creative music», mit welcher das Trio des amerikanischen Saxofonisten Anthony Braxton am Sonntagnachmittag das Festival beendet hat. Braxton, der in letzter Minute für den erkrankten Cecil Taylor gebucht werden konnte, war ein würdiger Abschluss für ein «Jazz Festival», das Willisau immer noch ist. Das Trio generierte eine frei schwebende und jederzeit konzentriert mäandernde Musik, die ihre klaren Eckpunkte hatte. Schlagzeuger Gerry Hemingway spielte auf weiten Strecken Vibrafon und Marimbafon und gefiel als hochsensitiver, wie auf Samtpfoten spielender und blitzschnell agierender Seismograph. Der in Luzern lebende Schlagzeuger, der an der Hochschule Luzern Musik unterrichtet, war von 1983 bis 1994 Mitglied im Anthony Braxton Quartet und ist seitdem nie mehr öffentlich mit Braxton aufgetreten. Aber das Gespür für dessen komplexe Musik hat er behalten. Anthony Braxton liess seine Klasse als formbewusster und klanglich souverän navigierender Freigeist auf dem Altsaxofon und Sopranino hören. Er konnte weich phrasieren, die richtige Melodie zur richtigen Zeit hervorzaubern, drängend schnell durch die Harmonien schlüpfen oder rabiat und energisch sein Instrument rumoren lassen. Das Trio entfaltete sich als organischer Klangkörper und hielt in seinen Erkundungen eine Energie aufrecht, die durch zu viele Exploits gebrochen worden wäre. Bei aller technischen Raffinesse zeigte Braxton auch Sinn für Atmosphäre und Spannung, was vom Trompeter Taylor Ho Bynum weniger behauptet werdekonnte. Der brillante Instrumentalist, der schon am Donnerstagabend in Willisau mit der Formation Living by Lanterns aufgetreten war, machte in seiner Virtuosität kaum mal eine Pause, so dass man bisweilen den Space vermisste, der dieser strukturierten Improvisation noch mehr Gewicht gegeben hätte.

Berliner Bande
Auf emsigen Dauerbeschuss mit eingedampfter Jazzgeschichte und solistischen Eskapaden machte auch das Berliner Quartett Squakk, das den Sonntagnachmittag eröffnete. Aber ihre Stücke waren trotz technischer Raffinessen ungleich leichter verdaulich, dazu gaben sie ihren trockenen Witz. Mit rhythmischem Punch, virtuosen Soli, fröhlichem Durcheinandergebläse und stets präzis formulierten Themen intonierte das Quartett eine Art zeitgenössischen Dixieland-Avant-Bop und wurde in Sachen Elastizität und Dringlichkeit gegen Ende immer besser. Mit tänzelnder Leichtigkeit kreuzten Christof Thewes (tb), Rudi Mahall (bcl, cl), Jan Roder (b), und Michael Griener (dr) durch die Kompositionen, in denen auch ein feuchtfröhliches «Trinklied» nicht fehlte, sanfte Verhunzung deutschen Schlagerverhaltens inklusive. Ein anderes Stück hiess «Reich durch Jazz», was Rudi Mahall selbstironisch zur Erklärung veranlasste, dass dies auch sein Lebensmotto sei. Köstlich auch der Kommentar von Thewes, als er zu einer Komposition meinte: «Immer wenn Sie denken, das ist irgendwie nicht zusammen, stimmt das.»

Donat Fisch Quartett
Fisch-Highlight

Als ein Highlight dieses Jahr entpuppte sich das Quartett des Saxofonisten Donat Fisch, der mit dem Tenoristen Andy Scherrer, seinem ehemaligen Saxofonlehrer, und dem profunden Rhythmusgespann Oester/Pfammatter brillierte. Darüber waren sich erstaunlicherweise für einmal sehr viele Besucher einig, vom jungen Jazz-Studierenden über den langjährigen Festivalbesucher bis zum nörgelnden Jazz-Kritiker. Die Musik wirkte wie die geballte Reminiszenz an einige grosse Stationen des Sechzigerjahre-Jazz, vom frühen Coleman über Coltrane bis Joe Henderson, und doch war sie ganz und gar eigenständig. Epigonen klingen anders. Hier war eine Erfahrung spürbar, die im Laufe der Zeit sehr vieles einverleibt, verdaut und transformiert hat. Endlich konnte Donat Fisch, der seit Jahren ein ausgezeichneter Instrumentalist ist und unter anderem auch im Peter Schärli Sextett spielt, seine Klasse mal auf einer bekannten Festivalbühne ausspielen. Auch Andy Scherrer, der schon lange zu den besten Saxofonisten Europas zählt, ist, gemessen an seinem Können, noch viel zu wenig breit ein Begriff. Die Band wirbelte in den up tempo Stücken mit Bravour durch Hardbop- Gebiete und zeigte in den Balladen, was mit «herzerweichend jenseits von Kitsch» gemeint ist. Statt sich burschikos mit «tenor battles» aufzuplustern, gaben sich der Meister und der Schüler auf ebenbürtigem Toplevel die Inspirationen weiter, wechselten sich ab, gingen ineinander über, erfreuten mit schwindelerregenden Kaskaden und einem berührenden, melodischen Gout. Scherrer spielte energisch geläutert, mit einem scharfen, manchmal luftig knisternden Ton. Der Sound von Fisch schien vergleichsweise seelenvoller, seine Linien kamen quirliger und chamäleonhafter. Beide entwickelten eine solistische Imaginationskraft, wie man sie in diesen Jazz-Breitengraden eigentlich kaum mehr kennt.

Leise und laut
Am andern Ende des Spektrums, wo jegliche «Jazz-Strukturen» fehlen und nur noch mikrotonale Prozesse flirren, improvisiert das Trio Karl ein Karl, und das seit 30 Jahren. Diesen Kerlen muss man nicht mehr viel vormachen. Trotzdem ist ihre Art von Musik nicht jedermanns Sache. Da gibt es kaum je ein gewohntes Pattern, einen Hauch Melodie oder sonst etwas strukturell Gewohntes, an dem man sich festhalten könnte: Dafür jede Menge an überraschenden und wahnwitzigen Klängen und Zusammenklängen. Peter K Frey (Bass), Michel Seigner (Gitarre) und Alfred Zimmerlin (Cello) erforderten mit ihrer hochpräzisen und hellhörigen Klangmatrix aus Tausenden von Klängen vollste Aufmerksamkeit. Man wähnte sich wie auf akustischer Expedition durch unentdeckte Ameisen- und Insektenreiche. Schon fast körperlich spürbar war, wie das Trio die Klangfelder der Stille auslotete. Die Musik schien auf gewissen Tiefenstrukturen zu basieren, war aber dennoch zu jeder Zeit purer Ausdruck des Moments. Im voll besetzten Saal der Stadtmühle machte Fredy Studer in seinem herausragenden Solo-Set deutlich, dass auch eine «Saftwurzel» auf dem Schlagzeug klanglich vielschichtig und dramaturgisch differenziert eine feinsinnige Musik machen kann. Eine Art «Saftwurzel» ist auch der Bassklarinettist Lucien Dubuis. Der druckvolle und mit sympathischen Ansagen aufgelockerte «Future Rock» seines Trios war jedenfalls schlüssiger als die noisige Zufallsmusik mit ihren zerstückelten Powerphrasen von Nels Cline und Greg Saunier zuvor.

Trip-Textur
Langatmig bis ärgerlich war der uninspirierte Trance-Jazz des Marcus Gilmore Special Projects. Zwar entwickelte das repetitive Kreiseln der einzelnen Patterns, Linien und Riffs mit fortschreitender Zeit eine Art Trip-Textur, die sich heimlich einnistete. Handkehrum musste man erdulden, wie das doch sehr eindimensionale Material richtungslos vor sich hin tändelte. Auch die farblose Delay-Trompete von Graham Haynes war kaum zu ertragen. Daran konnte auch der währschaft befeuernde Gilmore am Schlagzeug nichts ändern. Mit dem amerikanischen Singer/Songwriter Joe Henry setzte Arno Troxler einen Pflock ins Programm, der unter den Jazz-Feaks zu reden gab. Noch nie hat man in der langen Geschichte von Willisau einen Musiker gehört, der wie Johnny Cash oder Bob Dylan ein pures Songprogramm abliefert. Die Qualitäten von Henry sind unbestritten, der Kontext (nach dem Donat Fisch Quartett) wirkte dennoch irritierend, zumal die beiden Mitmusiker zu wenig in Erscheinung traten und das musikalisch breitgefächerte Bukett, wie es auf den arrangierten Alben von Henry zu hören ist, nicht zum Ausdruck kam. Da war das neunköpfige Ensemble von Living by Lanterns aus Chicago/New York ein nahrhafteres Erlebnis. Ihre Musik öffnete sich wie ein Fächer über die ganze Jazz-Geschichte und schöpfte gleichzeitig voll aus der zeitgenössischen Jazz-Sprache. Die Wendigkeit des Musizierens paarte sich mit einer spürbaren Spiellust. Themen wurden leichtfüssig ineinandergeschoben, fein geflochtene Gewebe wechselten mit dichten Grooveteppichen und solistischen Interventionen. Diametral anders wirkte das Trio Third Reel des Westschweizer Saxofonisten Nicolas Masson, das eine Art meditatives Treten an Ort praktizierte. Vorgeführt wurde eine stilvolle Klangkultur mit feierlich schwelgenden Tenorsax- und Klarinettelinien, Weichtupfern von der elektrischen Gitarre und einem permanent geschäftigen Schlagzeug. Trotz aller Sorgfalt und einer läuternden Aura der Ruhe: Die Dramaturgie versandete in penetranter Ebenmässigkeit und vermochte den dosiert entwickelten Wohlklang nicht mit andern musikalischen Gesichtspunkten zu spiegeln oder zu erweitern. So war die Musik am Ende, bevor sie fertig wurde.

Erfolg gehalten
4000 Besucher: Das sind gleich viele wie 2012, als das Festival unter der Leitung von Arno Troxler seinen ersten kleinen Durchbruch erlebte. «Das zeigt, dass der letztjährige Erfolg nicht ein einmaliger Glückstreffer war», sagte am Sonntag ein erleichterter Arno Troxler. Es ist ein positives Signal für nächstes Jahr, wenn das Festival zum 40. Mal durchgeführt wird. Sehr zufrieden zeigte sich Troxler mit der künstlerischen Qualität. Zu seinen Highlights gehörten das Donat Fisch Quartett, das Chicago/New York Ensemble Living by Lanterns und das Anthony Braxton Trio. «Auffällig war dieses Jahr die gute Stimmung beim Publikum und unter den Musikern.» Verantwortlich dafür macht Troxler nebst dem schönen Wetter «auch das liebevoll gestaltete Festivalgelände mit ausgezeichneter Gastronomie und gemütlichem Ambiente».

Pirmin Bossart

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